„Mami, ich habe uns einen Platz organisiert.“ Aus einer der hinteren Ecken winkte ihre Tochter herüber. („Ausgerechnet...“) Vorsichtig hob sie das Tablett über Köpfe hinweg, schlängelte sich an Personen vorbei, von denen sich die Weißgekleideten eiliger bewegten als die in zivil. („Gar nicht gut...“) Mit dem Tablett zwischen den Tischen durch zu balancieren war heute für sie wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Egal in welcher Disziplin. („Eher bist Du ein Fall für die Paralympics...“)
Ihr war oft schlecht und manchmal kam Schwindel dazu. Deswegen hatte sie ihren Kontrolltermin bei Doktor Steigerle vorgezogen. Dummerweise war ihr Vater spontan als Kindersitter ausgefallen, sodass sie ihre Tochter nun mit herbringen musste. Deren unbedarfte Kinderstimme gerade verständnisvoll-erklärende Worte sprach. Natürlich in dem Moment, als eine allgemeine Stimmenpause die Cafeteria belegte. „Meine Mama ist momentan nicht so fit, da dauert alles ein bisschen länger. Und es fällt auch schon mal hin. Aber, wenn was hinfällt, das ist nicht schlimm. Dann hebt man es wieder auf, entschuldigt sich und gut ist. Blöd, natürlich, wenn was kaputt geht. Wie letzte Woche das Marmeladenglas im Supermarkt. Marmelade klebt ganz schlimm.“
(„Das hat sie jetzt nicht wirklich gesagt...“)
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Die braunhaarige Frau, an deren Tisch Vivi ihnen Plätze organisiert hatte, nahm Susanne das Tablett ab. „Vielen Dank.“ Sie sah sich um. „So voll habe ich es hier noch nie erlebt.“ „Dann waren Sie länger nicht hier.“ Ein ebenfalls braunhaariges Mädchen, nur wenig älter als ihre eigene Tochter, strahlte sie aus zwei dunkelbraunen Augen an. „Seit mein Papa hier was zu sagen hat...“ „Lilly!“ „Na gut. Seit er ein bisschen was zu sagen hat, läuft hier einiges anders.“ „Dein Papa ist Koch?“ „Ne. Arzt. Er holt Kinder auf die Welt.“ „Das verstehe ich aber nicht.“ Vivi machte eine fragende Armbewegung. („Ich ehrlich gesagt auch nicht.“)
„Und wie heißt Du?“ Die Arzttochter tippte der Patiententochter auf den Arm. „Vivi. Viviane Krupp.“ „Ich heiße Lilly. Mami, darf ich mit Vivi Babys gucken gehen?“ „Ach Kind, Dein Vater kann Dich jeden Moment hier abholen.“ „Ja, aber es kann auch noch viele Momente dauern. Wir gehen auch nirgendwo anders hin.“ „Ja, Mami, darf ich mit Lilly Babys gucken gehen?“ Vivi bekam leuchtende Augen. Gerade erst hatte ihre Freundin Nora ein Schwesterchen bekommen. „Babys sind so süß!“
„Nur solange sie schlafen!“ Die sarkastische Bemerkung kam vom Nebentisch, an dem mehrere Ärzte Mittag machten. „Ach, Doktor Hassmann, Sie müssen es ja wissen.“ Anna Kaan zwinkerte der Brünetten mit dem modischen Kurzhaarschnitt zu. „Haben Sie nicht gerade erst Ihr drittes Kind zur Welt gebracht?"
„Von mir aus hätte der Vater sie auch austragen können. Immerhin können die Erzeuger heutzutage die Elternzeit übernehmen.“ „Tja, vielleicht macht das eines Tages die Medizin möglich...“ „Nun, das Thema fällt ja eher in den Bereich Ihres Exmannes. Dann hätte er Sinnvolleres zu tun, anstatt mir das...“ Mit einem Blick auf das braunäugige Mädchen, das sie erwartungsvoll ansah, würgte die Neurochirurgin den Rest des Satzes herunter.
„... anstatt Ihnen das Leben schwer zu machen?“ Ein wuschelköpfiger Arzt tauchte urplötzlich zwischen den Tischen auf. Er grinste von einem Ohr bis zum anderen. An seinen wunderschönen dunkelbraunen Augen identifizierte Susanne ihn zweifelsfrei als Lillys Vater. Was ihr die spontane Reaktion der Siebenjährigen bestätigte.
„Papa!“ Lilly sprang ihrem Vater, trotz begrenztem Platzangebot, an den Hals. „Gerade wollte ich Vivi die Babys zeigen.“ Eine leichte Enttäuschung war aus der Kinderstimme herauszuhören. „Dann geht doch und ich warte hier auf euch.“ Susanne warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. „Das ist ungünstig, ich habe gleich einen Termin bei Doktor... äh, oben halt.“ Ihre Krankengeschichte ging niemanden etwas an. Auch nicht hier im Krankenhaus. Vivi zog eine Schnippe. „Bei den Onkelogen ist es aber immer so langweilig.“ Mehdi lachte. Der Frau war es sichtlich unangenehm, dass ihre Tochter so frei heraus plauderte. „Ich bin Doktor Kaan. Wenn Sie wollen, nehme ich mir jetzt wie geplant meine und spontan Ihre Tochter, gehe mit den beiden Damen Babys gucken und anschließend auf den Spielplatz. Dort holen Sie sich Ihre Tochter wieder ab, wenn Sie mit Ihrem Termin bei, äh – oben, fertig sind.“
(„Das wäre sicherlich die einfachste Möglichkeit, aber...“) „Ich gebe meine Tochter doch nicht an einen wildfremden Mann ab!“
„Da wäre ich auch sehr vorsichtig!“ „Müssen Sie nicht bald abpumpen, Doktor Hassmann?“ „Lassen Sie meine Brüste mal meine Sorge sein!“ „Dann kann ich Ihre Akte also wieder schließen?“
„H-hm.“ Anna Kaan erhob sich. „Wie auch immer ihr das klärt, ich muss los. Lilly, Schatz, wir sehen uns nächste Woche. Viel Spaß bei Papa!“ Mit einem Kuss verabschiedete sie sich. „Gute Besserung für Sie. Und auch, wenn ich Ihre Sorge verstehen kann – ihm können Sie Ihre Tochter wirklich anvertrauen!“ „Genau. Er wird hier Chefarzt!“ Lilly schmiegte sich eng an ihren Vater.
„Nur über meine Leiche!“
„Papa, wenn wir zu den Babys gehen, können wir dann Sabine sagen, dass für Doktor Günni hier eine Leiche liegt?“
„Noch stehe ich!“
„Genau, Kollegin. Noch!“ Mehdi grinste die Neurochirurgin an. Dann lachte er, denn seine Tochter hatte einen durchaus praktischen Vorschlag: „Och, ich glaube, das macht dem Doktor Günni nichts. Der kennt sich mit sonderbaren Lebewesen aus! Ist ja auch viel einfacher, wenn Sie selbst in den Keller laufen können. Macht ja viel weniger Arbeit. Dürfen wir bitte jetzt endlich Babys gucken gehen?“
Sie grübelten, wälzten Hefter – einen bordeauxfarbenen und einen blauen, tauschten Papiere, zeigten auf dieses, besprachen jenes. Irgendwann legte die Mutter energisch alle Dokumente zur Seite. „Ich muss jetzt unbedingt etwas trinken. Und wag es ja nicht, mir ein Wasser zu holen. Von mir aus kann es klar sein, aber bitte mindestens 40% Alkohol!“ „Mutter!“ „Dann mix es halt. Aber weniger davon. Mehr Alkohol!“
Sie bekam das Gewünschte. Während sie probierte – und anscheinend hatte der Filius das richtige Mischungsverhältnis getroffen – lagen die Blicke des Mediziners auf seiner Mutter. „Ich brauche bis Monatsende eine Entscheidung!“ „Die kann ich Dir nicht abnehmen!“ „Nein, aber Du wirst wohl eine Meinung haben.“ „Ja, in der Tat.“ Sie schrieb etwas auf einen Zettel und steckte den in ihre Jackentasche. „Erst Deine Einschätzung.“
Der Chirurg schnaufte. Wenn er sich entscheiden könnte, hätte er wohl kaum seine Mutter mit dem Thema belastet.
Doch nun überraschte sie ihn: „Für Deine Treffsicherheit in Personalfragen habe ich Dich seit jeher bewundert. Also los...“
Erwartungsvoll sah Elfriede Haase ihren ältesten Sohn an. In der Tat war es schwer. Zwei gute Bewerbungen um den Chefarztsessel. Zwei treue Mitarbeiter. Zwei Koryphäen auf ihrem Gebiet. Zwei völlig andere Ansätze. Tatsächlich war dies eine Entscheidung für schwarz oder weiß - in diesem Fall auch blau oder bordeaux. Es gab nichts dazwischen.
Die alte Chirurgenhand lag schließlich auf der blauen Mappe.
Sie nickte und holte den Zettel hervor: blau
„Warum?“ In ihren blaugrauen Augen lag ein Lächeln.
„Mir gefällt das Provokative daran. Ein völlig anderer Ansatz.“
„Ich werde es Dir sagen, Franz. Das Konzept von Doktor Kaan spricht die Sprache von Doktor Meier. Die beiden sind befreundet, also gehe ich davon aus, dass dieser Gynäkologe sich bei ihm Rat geholt hat.“ Sie hob den Zeigefinder. „Eine gute Idee zu haben heißt nicht, sie auch gut formulieren zu können. Es spricht nichts dagegen, sich Hilfe zu holen. Und dass er Doktor Meier gefragt hat... er ist derjenige, der offen für die Zukunft ist. Ich denke, dass Doktor Kaan ähnlich denkt, denn er schaut in seinem Konzept über den Tellerrand hinaus. Dass er sein Fach versteht, das sieht man ebenfalls an den Zahlen. Auch wenn er immer wieder darauf hinweist, dass es Schätzungen sind, er hat sich kundig gemacht. Nicht nur sein eigenes Fachgebiet berücksichtigt.
Das Konzept von Doktor Hassmann ist fachlich einwandfrei. Aber im Gegensatz zu Doktor Kaan bleibt sie konsequent bei der Neuro beziehungsweise bei der Chirurgie. Sie ist noch mehr die klassische Medizinerin.
Du sagst zwar immer, dass Du für Neuerungen zu alt bist aber Du versperrst Dich ihnen nicht. Dir geht es um die Medizin und was sie leisten kann. Nicht, wie sie Dir nutzen kann. Das macht den Unterschied und von daher spricht Dich das Konzept von Doktor Kaan mehr an. Dein Kopf muss entscheiden, Dein Bauch hat es schon lange getan.“
Energisch schob sie die Mappen weg und nahm einen guten Schluck ihres Gin Tonics. „Nur so nebenbei... in drei Monaten ist Weihnachten. Ich würde gerne wieder zu Gretchen fahren.“
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